"Wir allein entscheiden, was wir mit der Zeit anfangen, die uns gegeben ist." - Elbenbrosche in Edoras, eigenes Foto, 2005

Montag, 14. September 2009, 16:53

Deutschlehrer, Wortverdreher und Literaturzerstörer

Über das just vergangene Wochenende hatte meine Liebste von ihrem Deutschlehrer an der Abendschule eine Hausaufgabe aufbekommen, für deren vollständige Bearbeitung Zeit in der ungefähren Größenordnung eines halben Tages draufgegangen ist. Diese Hausaufgabe hat uns somit nicht nur den Samstagnachmittag versaut, sondern auch wirkungsvoll verhindert, daß wir (wie eigentlich geplant) das Fest der 1.000 Lichter beim Seekrug am Obersee besuchen konnten. Als sie mit allem fertig war, dürfte dort das letzte Licht wohl bereits verloschen gewesen sein.

Die Aufgabe bestand darin, Bilder zu interpretieren, die angeblich im ersten Kapitel des Romans "Effi Briest" von Theodor Fontane vorkommen. Eine Liste der angeblichen Bilder war offenbar vorher von der Klasse im Unterricht erarbeitet worden, und diese sollten nun als Hausaufgabe auf ihre Aussage untersucht werden. So stellen beispielsweise verschiedene Pflanzen in einem Garten oder einzelne Architekturelemente Bilder dar, die angeblich auf das spätere, tragische Schicksal der Hauptfigur des Romans hindeuten sollen.

Angesichts dieser Aufgabe habe ich mich wieder an meine Schulzeit erinnert, wo wir im Deutschunterricht ständig ähnliche Aufgaben bearbeiten mußten, deren Sinn und Zweck nur allzu oft darin bestand, zusammenhängende Texte aus dem Zusammenhang zu reißen, sie Stück für Stück auseinanderzupflücken und dem Autor irgendeine Absicht zu unterstellen, die er beim Schreiben angeblich gehabt haben soll - darüber hinaus, die eigentliche Geschichte zu erzählen, versteht sich, aber genau dieser eigentlich wichtigste Aspekt von Literatur wird von der Zunft der Deutschlehrer im Allgemeinen ja geflissentlich ignoriert.

Warum können sich diese besserwisserischen Wortverdreher eigentlich niemals damit abfinden, daß sich beispielsweise Fontane vielleicht gar nichts Großartiges dabei gedacht hat, wenn er eine Örtlichkeit wie das Elternhaus von Effi Briest beschrieben hat? Kann es nicht einfach sein, daß er eine reale Örtlichkeit als Vorbild gewählt hat, an der er beispielsweise öfters vorbeikam oder die ihm vielleicht besonders gefiel, und diese dann einfach genau so beschrieben hat, wie er sie in der Realität vorfand, lediglich unter einem anderen Namen? Ich würde als Autor jedenfalls so vorgehen.

An diesem Beispiel wie auch an vielen anderen sieht man: Interpretation von Texten, gerade in einer derart formalisierten und erzwungenen Form wie im Deutschunterricht, ist nicht unbedingt förderlich für die Literatur an sich. Anstatt sie ihre vom Autor beabsichtigte Wirkung entfalten zu lassen, wird sie in vorgefertigte Denkschemata gepreßt, der Meinung des Chefinterpretierers (Deutschlehrers) angepaßt und zu einer Art von perfider Gedankenkontrolle mißbraucht. Du hast hier dieses oder jenes in den Text zu interpretieren, ob Du willst oder nicht, sonst gibt es schlechte Noten! Ein solcher Unterricht befördert die Literatur nicht, sondern er zerstört sie.

Ein derartiger Umgang mit Texten ist allerdings kein neues Phänomen, und schon gar nicht neu ist der krampfhafte Versuch, Autoren irgendwelche Absichten und Motivationen zu unterstellen, die von diesen niemals geäußert worden sind. Bereits Johann Wolfgang von Goethe kritisierte derartige fehlgeleitete Interpretationsversuche und nahm sie (nicht etwa, wie oft fälschlicherweise behauptet, im Faust, sondern in den "Zahmen Xenien") mit den folgenden Worten auf's Korn:

"Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter."

Am besten funktioniert diese Praxis natürlich, wenn sich der Autor gar nicht mehr dagegen wehren kann, was inzwischen leider sowohl bei Fontane als auch bei Goethe der Fall ist. Und so steht es nun jedem Deutschlehrer frei, ihnen seine eigene, ganz persönliche Meinung als Absicht zu unterlegen und diese Interpretation kraft seines Amtes zur allgemeinverbindlichen Wahrheit zu erklären. Und selbstverständlich wird dies auch weidlich ausgenutzt, wie in den meisten Fällen, wenn Menschen die Macht haben, anderen Menschen ihre eigenen Gedanken aufzuzwingen.

Ein weiteres Beispiel für einen Autor, der sich zu seinen Lebzeiten dagegen gewehrt hat, einer derartigen Praxis zum Opfer zu fallen, war J. R. R. Tolkien. Natürlich sind in seinem Fall die Täter eher in den Kreisen englischer Englischlehrer zu suchen, aber das Prinzip bleibt selbstverständlich das selbe. Nach Erscheinen des "Herrn der Ringe" hatten offenbar zahlreiche selbsternannte Literaturinterpreteure versucht, den Roman als Allegorie auf den Zweiten Weltkrieg betrachten zu wollen.

In seinem Vorwort zu der berühmten, später erschienenen "grünen" Ausgabe wehrte sich Professor Tolkien ganz entschieden sowohl gegen diese Interpretation als auch gegen alle sonstigen Versuche der Leute, ihm ungefragt irgendwelche sonstigen Motivationen zu unterstellen. Dort stellt er (gleich nach der Aussage, das Buch sei eigentlich zu kurz) unmißverständlich fest: "Was irgendwelche tiefere Bedeutung oder Botschaft betrifft, so gibt es nach Ansicht des Verfassers keine."

Nachdem er im Anschluß an diese Aussage die vermeintliche Allegorie, die dem Buch unterstellt wurde, mit guten Argumenten vollständig zu Fall gebracht hat, fährt Tolkien mit seiner Kritik der Kritiker fort: "Andere Lösungen mögen ersonnen werden je nachdem Geschmack oder den Ansichten jener, die Allegorien oder aktuelle Bezüge schätzen. Aber ich habe eine herzliche Abneigung gegen Allegorie in all ihren Erscheinungen, und zwar immer schon, seit ich alt und wachsam genug war, um ihr Vorhandensein zu entdecken."

Den gesamten Text dieser Abrechnung des Autor und Literaturwissenschaftlers Tolkien mit den Interpreteuren seiner Werke möge jeder selbst nachlesen. Sie ist lehrreich und beleuchtet insbesondere sehr schön das Wesen dieser selbsternannten Kritiker. Insgesamt haben wir hier ein Beispiel eines Autors, der sich gegen den Mißbrauch seines Werkes noch wehren konnte und diese Möglichkeit auch ebenso inbrünstig wie scharfzüngig genutzt hat. Angesichts dessen, was heutzutage den Texten eines Goethe oder Fontane angetan hat, würden ihn diese beiden Schriftsteller vermutlich um diese Chance beneiden!

Als Autor wünsche ich mir nur eines: Hoffentlich werden meine eigenen Werke niemals einem ähnlichen Schicksal anheim fallen wie Fontanes "Effi Briest", nämlich von selbstgefälligen Deutschlehrern dazu mißbraucht zu werden, durch die Verdrehung von Worten und die Unterstellung von Absichten anderen Menschen ihre eigene Denkweise aufzuzwingen. Bei dem Gedanken daran krampft sich mir bereits jetzt der Magen zusammen, und vermutlich würde ich mich, falls es eines Tages doch dazu kommen sollte, mit einer derartigen Frequenz im Grabe umdrehen, daß man einen gänzlich neuen Typ von Kraftwerk aus mir bauen könnte. Lehrer, laßt Literatur leben, anstatt sie zu zerstören!

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Oh ja, das ist mir aus der Seele gesprochen!

Ich kann mich noch an meine Schulzeit erinnern - es ging um Kafka.
Damals erregte Kafka in mir einen Brechreiz - und ich interpretierte pädophil-homosexuelle Tendenzen in sein Machwerk (Kafka möge mir verzeihen!).
Ich erhielt als Note eine 2.
Mein damaliger Lehrer meinte, daß ich zwar das eigentliche Thema verfehlt hätte (kann mich auch nicht mehr erinnern was wir hätten heraus- oder hineininterpretieren sollen), er mir aber für die durch und durch in sich schlüssige Argumentation leider keine schlechtere Note geben könne.
In der Klasse wurde dann das Thema Interpretationen ziemlich schnell abgehakt - es war eine Klosterschule...