"Wir allein entscheiden, was wir mit der Zeit anfangen, die uns gegeben ist." - Elbenbrosche in Edoras, eigenes Foto, 2005

Freitag, 1. Januar 2010, 18:20

Neues Jahr, altes Glück

Silvester (eigentlich neige ich ja immer noch dazu, diesen Tag mit "y" zu schreiben) bzw. Neujahr stellt für mich persönlich schon seit frühester Kindheit eines der wichtigsten Feste im Jahreskreis dar. Das hat natürlich zum einen etwas mit meiner pyromanischen Neigung zu tun, zum anderen stellt aber auch der Jahreswechsel die beste Gelegenheit dar, in Ruhe auf Vergangenes zurückzublicken, Dinge hinter sich zu lassen und Pläne für die Zukunft zu machen. Glücklicherweise wird Silvester durch die nahegelegenen Weihnachtsfeiertage weitestgehend von störendem Kommerz und Festtags-Trubel abgeschottet, so daß man hier tatsächlich einmal die Gelegenheit hat, abzuschalten, in Ruhe nachzudenken - und dann um Mitternacht mit großem Getöse weniger das neue Jahr zu begrüßen als vielmehr das alte Jahr ein für allemal zu verjagen. Jedenfalls war das bei mir bisher in den meisten Fällen so.

Natürlich gibt dieses Fest einem auch noch einmal eine gute Gelegenheit, mit netten Menschen zusammenzukommen (welche man sich an Silvester allerdings weit mehr als an Weihnachten selbst aussuchen darf) und eine entspannte Feier zu verleben, deren Rituale einem nicht durch irgendwelche gesellschaftlichen oder gar religiösen Normen vorgeschrieben sind. Seit der Jahrtausendwende, wenn nicht schon seit dem Abitur im Jahre 1993, waren mir allerdings die dafür in Frage kommenden, netten Menschen Zug um Zug ausgegangen. Alte Freunde sind verzogen, haben sich im Studentenwohnheim mit illegal verlegtem, bewußtseinsveränderndem Teppichkleber unfreiwillig den Verstand weggeballert, sind unter die Nazis gefallen (wofür man sich natürlich auch irgendwie den Verstand weggeballert haben muß) oder weiß der Kuckuck was.

Die letzten beiden Silvesterfeiern in größerer Runde mündeten jeweils in Ereignisse, an die ich äußerst ungern zurückdenke. Beiden folgte aus sehr unterschiedlichen Gründen innerhalb weniger Wochen das Ende meiner jeweiligen Beziehung. In beiden Fällen war es im Nachhinein betrachtet sicherlich besser so, wodurch sich die ganze Sache für mich aber in beiden Fällen natürlich nicht weniger schmerzhaft gestaltete. Sicher haben auch diese Ereignisse der beiden Jahreswenden 1996/97 und 2002/03 nicht gerade dazu beigetragen, mich zu einem kontaktfreudigeren und aufgeschlosseneren Menschen werden zu lassen. Und in das Remmidemmi sogenannter Silvester-Parties (auf denen man als Single ja doch nur in der Ecke stehen gelassen wird und sich frustriert ins neue Jahr hineinsäuft) habe ich mich danach natürlich erst recht nicht mehr gestürzt.

Wie der ganze Rest der Jahre wurde mit der Zeit auch Silvester für mich zu einem immer traurigeren und einsameren Fest, welches ich schließlich nur noch mit meiner Mutter verbrachte, allenfalls zuzüglich irgendwelcher nervtötender Nachbarn, denen man um Mitternacht am Teich im Park hinter dem Haus über den Weg lief und denen man lieber nicht über den Weg gelaufen wäre. Der Jahreswechsel 2007/2008 hatte in dieser Hinsicht bereits einen absoluten Tiefpunkt dargestellt, mußte ich doch das neue Jahr unfreiwillig mit Leuten begrüßen, die strunzendämlich sind, die ich überhaupt nicht leiden kann und die sich seit irgendeinem völlig bescheuerten Nachbarschafts-Sommerfest vor gefühlten 30 Millionen Jahren obendrein auch noch einbilden, mich duzen zu dürfen. Und diese unerwünschten Leute schauten mir dann auch noch bei meinem Feuerwerk zu und taten so, als ob sie dazugehören würden. Perlen vor die Säue!

Der Jahreswechsel 2008/2009 hatte es jedoch irgendwie geschafft, diesen Tiefpunkt in einigen Punkten noch zu unterbieten. Sicherheitshalber hatte ich mein Feuerwerkszeug dieses Mal gut unsichtbar in einem Rucksack verstaut, um bloß keine unerwünschten Zuschauer im Vorfeld darauf aufmerksam zu machen. Zwar liefen uns auch dieses Mal um Mitternacht wieder die selben hirnlosen Vollpfosten über den Weg (hey, eine unserer Nachbarinnen sammelt allen Ernstes Sand aus aller Welt in kleinen Fläschchen!), aber irgendwie gelang es mir, durch gezieltes Langweilen dafür zu sorgen, daß sich binnen einer halben Stunde alle unerwünschten Leute wieder verdrückt hatten, so daß ich das alte Jahr wenigstens in Ruhe mit einem ganz privaten Feuerwerk verjagen konnte, ohne dabei von irgendwelchen unerträglichen Dumpfbacken begafft zu werden.

Alles in allem war dieser Jahreswechsel in das Jahr 2009 jedoch eine ziemlich trostlose Veranstaltung gewesen. Meine Mutter meckerte die ganze Zeit nur, daß ihr kalt wäre, daß sie ja sowieso der Meinung wäre, daß ich lieber kein Geld für Feuerwerk ausgeben solle, und insgesamt ließ sie (wie üblich) jegliches Verständnis dafür vermissen, welche Bedeutung für mich die Feier des Jahreswechsels eigentlich hat. Statt dessen hackte sie seit Jahren höchstens den ganzen Silvesterabend lang auf mir herum, bis ich eines schönen Jahres irgendwann, anstatt zu feiern, bis 10 Minuten vor Mitternacht meine Einkommensteuervoranmeldung für Dezember vorbereitet und ausgefüllt habe. Solche Momente schreien manchmal einfach nur danach, sich mit Alkohol zuzuschütten, damit man möglichst nichts mehr von seiner Umgebung mitbekommt.

Am Neujahrstag des Jahres 2009 wachte ich nicht nur mit einem leichten Brummschädel, sondern auch mit dem festen Vorsatz auf, daß ich so einen trostlosen Silvesterabend nie wieder erleben wollte. Und so schleppte ich mich (eigentlich wider besseres Wissen und gegen jede Lebenserfahrung) irgendwann im Laufe des Neujahrstages wieder einmal auf eine Single-Seite im Internet, auf der ich seit über einem Jahrzehnt angemeldet war, die mir jedoch bis dato abgesehen von einer dramatisch gescheiterten Beziehung mit zwischenzeitlicher sechswöchiger Verlobung nur jede Menge Kontakte mit vollkommen gestörten, gescheiterten Existenzen eingebracht hatte, die ihre eigene, im Laufe der Zeit liebevoll gepflegte Beziehungsunfähigkeit als Vorwand dazu zu nutzen versuchten, andere Menschen nach Herzenslust verletzen zu dürfen.

Wie gewohnt strotzte diese Seite auch zu jenem Zeitpunkt wieder einmal von Profilen ohne jegliche Aussagekraft. Frei nach dem Motto: "Ich weiß nicht, was ich über mich schreiben soll - frag' mich einfach!" Und wenn man dann tatsächlich fragt, erhält man entweder überhaupt keine Antwort oder wird statt dessen nur wüst beschimpft, weil die betreffende Person eigentlich gar keinen Partner sucht, sondern lediglich jemanden, an dem sie ihren Weltschmerz auslassen kann. Kummer, Menschenhaß und Depressionen sind ansteckend - wenn man immer nur auf solche Leute trifft, droht man irgendwann selbst zu so etwas zu werden. Genau aus diesem Grund hatte ich mich eigentlich schon seit Monaten nicht mehr auf dieser Seite blicken lassen, und fast wäre ich gleich wieder gegangen.

Im letzten Moment blieb ich doch noch bei einem Profil hängen, das irgendwie anders war. Nicht nur, daß es mal eben ungefähr fünfhundert Mal so viel Text enthielt wie der traurige Durchschnitt (etwa: "Hallo!") aller anderen Personen, die sich an diesem Tage dort neu angemeldet hatten. Sondern es begann auch noch mit den folgenden Worten: "Damit das gleich mal klar gestellt wird: Es ist mir sehr, sehr wichtig, dass die Besucher dieses meines Accounts mein Profil nicht nur lesen, sondern auch inhaltlich verstehen. Ich schreibe die Dinge hier nicht umsonst hinein und erwarte, dass dann auch auf meine Angaben Rücksicht genommen wird." Nanu? Sollte es etwa außer mir noch jemanden auf diesem Planeten geben, der den heutzutage offenbar allgemein verpflichtenden Hang zur Oberflächlichkeit nicht verstanden hat?

Weiter unten im Text fand ich einen Satz, der vielleicht eine Erkärung dafür bieten konnte, wenn er denn tatsächlich ernst gemeint sein sollte - denn Ähnliches gelesen hat man auf solchen Seiten sicherlich schon das eine oder andere Mal, nur, daß in den allermeisten Fällen die betreffende Person dann anschließend ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden vermochte: "Ich hasse es, wenn sich Menschen total verstellen und dann sich wundern, dass sie falsch verstanden werden. Und es ist wichtig, dass ein Mensch so selbstbewusst ist, dass er sich verbal verteidigen kann."

Hoppla? Wohl kaum jemand würde auf ein Profil - sofern er dieses denn tatsächlich sorgfältig gelesen haben sollte - eingehen, wenn darin die Fähigkeit, sich gegen verbale Angriffe zu verteidigen, als Grundvoraussetzung für eine Kontaktaufnahme oder gar für eine zwischenmenschliche Beziehung mit der betreffenden Person aufgeführt wäre. Hier war ganz offensichtlich jemand genauso frustriert wie ich über diese ganze notorische Oberflächlichkeit, das hirnlose Gesabbel und Gebaggere und auch über den ständigen aufgesetzten (oder eingebildten?) Zwang, anderen Menschen unbedingt um jeden Preis gefallen zu müssen. Notfalls bis zur totalen Selbstverleugnung.

Seltsamerweise hat mich gerade die Aggressivität und auch gewisse Kratzbürstigkeit, die in diesem Profil zum Ausdruck kam, angeprochen, wohl, weil ich mich zu diesem Zeitpunkt selbst gerade in einer ähnlichen Gemütslage befand wie die Verfasserin beim Schreiben dieser Zeilen und das Geschriebene insofern sehr gut nachvollziehen konnte. Und so habe ich ausgerechnet diese Person angeschrieben. Nicht irgendwelche Mädels mit tollen Fotos, aber ohne jede Aussagekraft. Nicht irgendwelche Damen mit netten, möglicherweise im Netz zusammengeklauten, jedenfalls ziemlich profillosen Texten, die einfach nur dazu dienen sollten, möglichst jedem zu gefallen. Sondern das einzige Profil mit echter Persönlichkeit.

Damals hätte ich nie geahnt, zu was dies alles führen würde. Und wenn jemand es mir gesagt hätte, wer weiß, vielleicht hätte ich mich darüber dermaßen erschrocken, daß ich mich gar nicht mehr getraut hätte, überhaupt einen Satz zu schreiben, aus Angst, das Falsche zu sagen und damit alles zunichte zu machen. So aber konnte ich völlig unverkrampft an die Sache herangehen, da ich ja gar nichts zu verlieren hatte - und genau deshalb habe ich am Ende alles gewonnen. Heute an Neujahr vor einem Jahr haben wir uns kennengelernt (wenngleich der persönliche Kontakt danach noch einige Zeit auf sich warten ließ), und ich möchte meiner Partnerin hiermit ganz offen und für alle hörbar entgegenrufen: Ich liebe Dich!

Unter diesen veränderten Bedingungen sollte Silvester 2009 so anders werden als die ganzen letzten Jahre zuvor! Zwar gab sich meine Mutter alle Mühe, herumzumuffeln und schlechte Laune zu verbreiten. Nichts, was man ihr vorgeschlagen hat, wollte sie für sich annehmen. Statt dessen stellte sie sich lieber demonstrativ als armes, verkanntes und alleingelassenes Mütterchen dar, das allein zu Hause bleiben müsse - obwohl wir ihr mehrfach angeboten hatten, mitzukommen und mit uns zu feiern, damit sie genau dies eben nicht gemußt hätte. Aber sie hat mittlerweile eine gewisse Meisterschaft darin entwickelt, sich selbst mit aller Gewalt jeden Spaß und jede Freude zu versauen und dann andere für ihr Elend verantwortlich zu machen.

Statt (wie meine Mutter es wohl lieber gesehen hätte) wieder einmal nur an den Teich im Park hinter dem Haus zu gehen und dort mit dummen und langweiligen Leuten einen dummen und langweiligen Jahreswechsel zu verbringen, bin ich mit meiner Liebsten dorthin gegangen, von wo aus ich das allererste Mal mit ihr telefoniert hatte: An den Nordhang des Teutoburger Waldes, hoch über dem Oetkerpark, wo man von einem Fußweg oberhalb der diversen Kleingartenanlagen einen tollen Ausblick über die ganze Innenstadt und den gesamten alten Bielefelder Westen hat. Einige Zeit danach waren wir bei einem ihrer ersten Besuche in Bielefeld hier entlanggewandert, und ganz in der Nähe hatten wir uns erstmals gegenseitig unsere Liebe eingestanden.

Meine Mutter hat uns zwar eine halbe Stunde vor Mitternacht dort hochgefahren, aber offensichtlich nur, um hinterher noch besser darüber meckern zu können, daß sie doch immer alles für uns tun müsse und wir sie im Gegenzug ach so schlecht behandeln und sie alleine zu Hause sitzen lassen würden. Dabei hatten wir vorher stundenlang auf sie eingeredet, um sie doch noch zum Mitkommen zu bewegen, aber sie wollte ja nicht. Außerdem hatten wir ihr mehrfach angeboten, anschließend zu Fuß zurückzukommen, damit sie zum Jahreswechsel auch ein Gläschen Sekt oder Wein trinken könnte. Was sie jedoch nicht daran gehindert hat, uns hinterher, als wir tatsächlich zu Fuß nach Hause kamen, massive Vorhaltungen darüber zu machen, daß sie angeblich wegen uns nichts habe trinken können.

Dieses Mal hatten wir uns aber vorgenommen, uns (im Gegensatz beispielsweise zu den nicht unbedingt erquicklichen Vorkommnissen an Heiligabend) von ihrem deprimierenden Altersstarrsinn nicht die gute Laune verderben zu lassen. Kurz vor Mitternacht, während unten in der Stadt ungeduldige Mitbürger bereits tausende von Raketen und Fontänen in den etwas nebeligen Nachthimmel steigen ließen, trafen wir in unserem Zielgebiet ein und suchten uns ein schönes Plätzchen mit guter Aussicht über die Stadt. Einige andere Leute hatten die gleiche Idee gehabt, außerdem nervten ein paar blöde Taxifahrer, die ausgerechnet um Mitternacht hierher fahren und sich in der Einfahrt zur Kneipe der Kleingartenkolonie festfahren mußten. Aber alles in allem stellte es sich als eine richtig gute Entscheidung heraus, hier oben den Jahreswechsel zu verbringen.

So stießen wir dann um Mitternacht mit Wikingerblut aus uralten Zinnbechern (vor deren Verwendung meine Mutter uns natürlich vorher eindringlich gewarnt hatte) auf den Jahreswechsel an und genossen die herrliche Aussicht auf ein grandioses Feuerwerk, wie ich es in dieser Form noch nicht gesehen hatte - vermutlich, weil wir Silvester jahrzehntelang immer nur im eigenen Garten bzw. nach dem Umzug von 1993 am Teich im Park hinter dem Haus gehockt hatten, wo man gelinde gesagt nicht allzu viel von der Welt mitbekommt. Wildfremde Menschen wünschten uns ein frohes neues Jahr, ohne daraus gleich ableiten zu wollen, uns (wie sonst unsere Nachbarn) nach Herzenslust auf den Sack gehen zu dürfen. Und auch unser eigenes, privates Feuerwerk kam hier oben später noch sehr schön zur Geltung.

Und so endete mit dieser schönen kleinen Feier (man könnte es fast eher "Zeremonie" nennen) ein außergewöhnliches Jahr - außergewöhnlich vor allem deshalb, weil man es diesmal nicht verjagen mußte. Schließlich hatte es uns beiden doch ein noch beim letzten Jahreswechsel völlig unvermutetes Glück gebracht. Aber auch in Bezug auf das neue Jahr war dieser Jahreswechsel anders, konnte ich es doch zum ersten Mal seit langer Zeit weniger mit Angst (vor noch mehr Trostlosigkeit) als vielmehr mit großer Vorfreude auf die Erlebnisse begrüßen, die es uns beiden gemeinsam noch bringen mag. Dieses Mal bedarf der Jahreswechsel auch keiner hochfliegenden Vorsätze bezüglich dessen, was im neuen Jahr alles besser werden soll. Ich wünsche mir vom neuen Jahr eigentlich nur eines: Das gleiche Glück wie im alten Jahr.

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