"Wir allein entscheiden, was wir mit der Zeit anfangen, die uns gegeben ist." - Elbenbrosche in Edoras, eigenes Foto, 2005

Donnerstag, 17. September 2009, 14:12

Was ist eigentlich "geringe Schuld"?

Schon wieder ein interessantes Fundstück zum Thema des merkwürdigen Umganges unserer Rechtsprechung mit dem Thema Gewalt: In der Neuen Westfälischen von heute findet sich ein Artikel unter der Überschrift: Juristin soll eigenes Kind misshandelt haben. Ich denke, die NW wird es mir nicht übelnehmen, wenn ich an dieser Stelle aus diesem Artikel zitiere, damit der Sinn dieses Blog-Eintrages nicht verlorengeht, falls der Text irgendwann einmal im Archiv verschwinden sollte.

"Eigenwillige Erziehungsmethoden soll eine 47-jährige Bielefelder Volljuristin im Laufe des Jahres 2006 bei ihrem damals fünfjährigen Sohn angewandt haben. Weil das Kind keine Erbsen mochte, soll sie ihm beim Essen die Augen verbunden und es mit einer Gabel in die Hand gestochen haben, um es zum Verzehr des ungeliebten Gemüses zu zwingen. Bei einer anderen Gelegenheit soll die Frau [...] ihren Sohn mit einer Fahnenstange geschlagen haben. In zwei weiteren Fällen soll sie den Jungen mit einer Gabel in den Nacken gestochen und mit der Hand heftig gegen die Stirn geschlagen haben.

"Die Vorfälle wurden bekannt, weil der Fünfjährige einer Betreuerin im Kindergarten die durch die Misshandlungen entstandenen Verletzungen zeigte und erzählte, von wem und aus welchem Anlass sie ihm zugefügt worden waren. Von der Kita-Leiterin darauf angesprochen, soll die Mutter die Sachverhalte zugegeben, aber bagatellisiert haben. Die Polizei wurde informiert, die das Kind vernahm. Der Junge soll die Angaben, die er im Kindergarten gemacht hatte, wiederholt haben."

Zum einen frage ich mich natürlich, was eine Mutter dazu treiben kann, ihrem eigenen Kind so etwas anzutun. Für ein derartiges Verhalten gibt es in meinen Augen keine Ausreden. Es scheint ja offenbar nicht so zu sein, als ob der Mutter, vom Kinde bis zur Weißglut genervt, einmalig "die Hand ausgerutscht" wäre. Sondern die in diesem Artikel geschilderten Zwangsmaßnahmen erfüllen schon den Tatbestand der Folter. Wie die NW es ernsthaft wagen kann, so etwas lediglich als "Eigenwillige Erziehungsmethoden" zu bezeichnen, will mir nicht in den Kopf - ich finde diese verharmlosende Formulierung erschreckend!

Noch verstörender ist allerdings, wie die Justiz mit diesem Fall umgegangen ist: ""Die Staatsanwaltschaft Bielefeld erhob Ende 2008 Anklage wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen und Körperverletzung gegen die Juristin. Vor einer Jugendrichterin fand jetzt in nichtöffentlicher Sitzung die Hauptverhandlung statt. Weil die Angeklagte von ihrem Schweigerecht Gebrauch machte, hätte sich die Notwendigkeit ergeben, den Sohn als Zeugen zu hören."

Warum eigentlich? In dem Artikel ist doch ganz deutlich davon die Rede, daß der Sohn bereits gegenüber der Kindergärtnerin und gegenüber der Polizei ausgesagt hat - und daß die Mutter die Mißhandlungen bereits zugegeben hatte! Wieso die Prozeßordnung es verlangen muß, daß trotz eindeutiger Sachlage nur dann ein Urteil möglich ist, wenn dem Kind wieder und wieder eine Aussage mitsamt dem Hochkommen der damit verbundenen Erinnerungen zugemutet wird, ist mir schleierhaft. Dem Wohl des Kindes sind solche Bestimmungen jedenfalls nicht zuträglich. Und so kam es am Ende, wie es kommen mußte:

""Der Junge befindet sich, wie auch seine drei Geschwister, mittlerweile in einer Dauerpflegefamilie." Warum wohl...?! "Die Pflegemutter und die anderen für das Wohl des Kindes zuständigen Personen waren der Meinung, dass eine Zeugenaussage die positive Entwicklung des Jungen stören würde und versagten ihre Zustimmung zur Vernehmung. Das Verfahren gegen die Mutter wurde daraufhin wegen geringer Schuld eingestellt."

Fazit: In unserem Rechtssystem ist es offenbar nicht möglich, trotz klarer Sachlage jemanden als Gewalttäter zu verurteilen, ohne das Opfer unnötig zu quälen. Und wenn diese Quälerei dem Opfer - das in diesem Fall ja längst ausgesagt hatte! - erspart bleiben soll, führt das dazu, daß die Gewalttat (trotz erfolgten Eingeständnisses, wenn auch nicht gegenüber der Polizei oder dem Gericht - offensichtlich kennt unser Rechtssystem also Zeugen erster und zweiter Klasse) vollkommen ungestraft bleibt.

Der größte Hohn ist allerdings die Begründung für die Einstellung: "geringe Schuld"! Wird die Schuld etwa dadurch geringer, daß dem Opfer die Qual einer erneuten Aussage erspart bleibt? Wird die Schuld etwa dadurch geringer, daß die Täterin die Aussage verweigert? (Denn anderenfalls wäre sie ja vermutlich doch verurteilt worden.) Wird die Schuld etwa dadurch geringer, daß die Angeklagte nicht zu ihren Handlungen steht? Oder verringert sich die Schuld etwa dadurch, daß der Prozeß mangels reißerischer Aussagen nicht spektakulär genug abgelaufen ist?

Aus Sicht der Gerechtigkeit leben wir wirklich in einem armen Land, wenn eine solche Farce eines Prozesses mit einem derart absurden Ausgang möglich ist! Zum Glück dürfte angesichts des biologischen Alters der Angeklagten wenigstens bei ihr persönlich eine Wiederholungsgefahr so gut wie ausgeschlossen sein. Das jetzige Urteil dürfte auf sie anderenfalls wohl kaum eine sonderlich abschreckende Wirkung gehabt haben. Und auf Gewalttäter in anderen Familien wirkt es mit Sicherheit sehr beruhigend: Einfach weitermachen wie gehabt, denn wenn man nur die Schnauze hält, kann einem letzten Endes doch überhaupt nichts passieren.

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